Manchmal ist das so eine Sache mit der Koinzidenz der Ereignisse. Gegen 18:15 kamen die ersten Nachrichten über „eine Schießerei“ in München durch. Bis ich gegen 19:15 aufbrach, war die Lage unklarer als zu Beginn. Von drei Tätern war die Rede und davon, dass es auch am Stachus Schüsse gegeben hätte. In einer solchen Situation fröhlich runter zum Rhein radeln, um ein Schiff zu besteigen, auf dem die Leute feiern und sich das Kirmesfeuerwerk anschauen werden? Ja, das muss sein, finde ich. Wenn wir angesichts der Morde dieser Lebensfeinde in Angst erstarren, kriegen die genau was sie wollen. Die Rheinpromenade ist kurz vor acht gesteckt voll. Keine Spur von Anspannung. Die Menschen sind fröhlich. Von der Kirmes wehen die spitzen Schreie der Frauen auf den gefährlichen Fahrgeschäften herüber. Es ist heiß und diesig. Die Plätze in den Kasematten sind gut belegt, und Hunderte Leute flanieren über das Untere Rheinwerft.

Beim Aufsteigen ist alles wie es vermutlich immer ist. Ob die Mitarbeiter überhaupt wissen, was zur selben Zeit in München passiert? Inzwischen gibt es im Internet das Video von einem Typ, der aus dem McD kommt und wahllos auf Leute schießt. Der gesamte ÖPNV steht still in der bayerischen Landeshauptstadt, die Züge fahren nicht mehr rein zum Hauptbahnhof. Die Bürger werden aufgefordert, daheim zu bleiben. Die Polizei geht immer noch von drei Tätern aus, dir irgendwo bewaffnet in der Stadt unterwegs sind.

Eine arabische Familie entert das Außendeck – das Familienoberhaupt, drei sehr schick verschleierte Damen und ein westlich gekleideter Youngster. Erste verunsicherte Blicke. Dann mein Versuch, Gäste an meinem Tisch auf den Amoklauf anzusprechen. Mehr als ein „Schrecklich, nicht?“ kommt da nicht. Auch an den anderen Tischen sind die Ereignisse in München kein Thema. Stattdessen beginnt der DJ seinen Dienst und spielt die momentan schwer angesagte Partymucke. Das Schiff legt ab und reiht sich ein in die Parade der anderen Passagierschiffe, die bis kurz vor dem Feuerwerk zwischen Medienhafen und Schnellenburg pendeln werden. Ich zähle insgesamt sechzehn Passagierschiffe – da ist die MS Stadt Düsseldorf noch lange nicht das größte. Die kleine MS Düssel – das älteste Schiff aus der Flotte der ehemaligen Rheinbahn-Bötchen – verschwindet fast zwischen den großen Booten.

Die Menschen feiern

Der Verkehr ist streng geregelt, die Wasserschutzpolizei patrouilliert oberhalb der Theodor-Heuss-Brücke und im Rheinknie. Gegen neun ist die Apollo-Wiese so voll, das kein Fitzelchen Rasen zu sehen sind. Auch auf den Brücken haben die ersten Zuschauer sich schon die besten Plätze gesichert. Niemand scheint verunsichert angesichts dieser gigantischen, chaotischen Menschenmenge auf der Kirmes, auf den Brücken und an der Rheinpromenade. Am Fortuna-Büdchen haben sich Hunderte zusammengefunden und feiern. Wenn jetzt hier jemand Amok laufen oder einen terroristischen Anschlag verüben würde, gäbe es bestimmt mehr Tote als in Nizza, schießt es mir durch den Kopf.

Der DJ, der sein Equipment an der offenen Tür auf dem untersten Deck aufgebaut hat, ist der erste, der über die Ereignisse in München reden mag. Er wird der einzige bleiben. Er erzählt, dass ihm eines seiner erwachsenen Kinder per WhatsApp mitgeteilt hätte, es sei alles okay. Da habe er noch gar nichts von der Schießerei mitbekommen. Wusste nur, dass der Nachwuchs am Donnerstag in München war. Er stimmt mir zu, dass man erstmal niemanden beschuldigen sollte, bevor irgendwer überhaupt weiß, was vorgefallen ist.

Gelöste Stimmung

Die Fahrgäste bedienen sich am Büffet. Die Stimmung an Bord ist gelöst, aber eher lässig als partywild. Wir passieren ein deutlich größeres Schiff aus Köln, wo locker 150 Leute auf dem Oberdeck zu lauter Musik abzappeln. Auf der Stadt Düsseldorf genießen die Passagiere einfach nur die tollen Blicke auf den Fluss, auf die Kirmes und auf die stetig wachsende Menschenmenge am Ufer. Die Getränke sind im Preis inbegriffen, die Bedienung flott und freundlich, der Alkoholspiegel steigt. Es ist fast dunkel, und die Menschen kommen ins Gespräch. Das Thema „Amok in München“ scheint niemanden zu beschäftigen.

Bin ich der einzige, der alle Viertelstunde das Smartphone zückt, um auf BR24 die neusten Nachrichten aus München zu verfolgen? Scheint so. Wieder spreche ich einen Mitfahrenden an, der auf dem fast leeren Unterdeck gerade einsam ein Bier trinkt. „Was soll man machen?“ sagt er, „Verrückte gibbet überall.“ Also auch kein Law-and-Order-Schreihals. Als dann Punkt 22:30 der erste Kanonenschlag den Beginn des Feuerwerks ankündigt, eile ich aufs Vorderdeck und denke dreißig Minuten lang keine Sekunde an die Toten in München. Erst auf dem Heimweg gegen halb eins fällt mir wieder ein, dass da in einem Münchner Einkaufszentrum neun Menschen ermordet wurden – und immer noch keiner weiß, wievielte Täter aus welchen Motiven um sich geschossen haben und wo sie sich jetzt aufhalten.

Beeindruckt

Tagesschau, N24 und n-tv bringen mich zuhause auf Stand. Ich sehe die Aufnahmen vom Pressesprecher der Münchner Polizei und bin tief beeindruckt. Ich lese, was die Polizei per Twitter und Facebook auf Deutsch, Englisch, Französisch und Türkisch verbreitet hat, und bin noch einmal beeindruckt. Ich erfahren davon, dass viele Bürger die Türen für die gestrandeten Mitmenschen öffnen, dass alle Münchner Moschee ebenfalls die Verlorenen da draußen einladen. Und ich schau mir noch die beeindruckende Pressekonferenz um 02:15 an. Die Erinnerungen an die Schiffsstour und das Feuerwerk ist schon fast verblasst.

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